Eisbrecher für erste Gespräche
Helena Müller
Es gibt den merkwürdigen Umstand, dass Inschriften auf antiken Vasen, Statuen oder Grabsteinen gelegentlich in der ersten Person abgefasst sind. Aufgrund fehlender Abstände zwischen den Worten erschließt sich der Textdabei erst beim lauten Lesen.1 Auf einer Amphore aus dem 6. Jahrhundert lesen wir „Kleimachos hat mich gemacht und ich gehöre ihm“ – das Objekt wird in der ersten Person beschrieben und der tatsächlich Schreibende in der dritten Person. Wird Kleimachos zum Zeitpunkt des Lesens nicht mehr hier sein, wird die Amphore dagegen weiterhin existieren.Dass die Lesenden zum Sprachrohr der Amphore werden, kann dabei durchaus als Überwältigung durch das sprechende Artefakt empfunden werden. So beendet auch ein römischer Grabstein aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. seine Inschrift sehr bestimmt mit den Worten: Dixi. Abei. (Ich habe gesprochen. Du kannst gehen.)
Ein gewachsenes Interesse an der materialen Dimension unserer Welt ist in den Geisteswissenschaften erst seit den 90er Jahren zu verzeichnen.2 Mittlerweile hat sich daraus ein heterogenes und interdisziplinäres Forschungsfeld entwickelt, dem die gemeinsame Überzeugung zugrunde liegt, dass Materialität und damit die Welt der Dinge integraler Bestandteil der Kultur, des sozialen Lebens und der menschlichen Erfahrung ist.3
Dass es so lange gedauert hat, diesen doch naheliegenden Gedanken zum Gegenstand akademischer Forschung zu machen, liegt mitunter an der bis in die Antike zurückgehenden philosophischen Bedeutungslast, die das Material mit sich herumträgt. Mit seiner Nähe zur Materie, im Sinne ungeformter Stofflichkeit, war Material bis weit in die Frühe Neuzeit negativ konnotiert. Dem lag die von Platon ausgehende idealistische Tradition zugrunde, die eine dualistische Beziehung zwischen Welt und Geist und damit Material und Form entworfen hatte. Die Vorstellung etablierte sich, wonach Material erst durch künstlerische Formgebung zu Etwas wurde. Es musste durch Gestaltung regelrecht überwunden werden. So wurde die Form zum aktiven Gegenspieler, der den notwendigen Korrespondenzbegriff zum passiven Material bildete. Aristoteles formulierte, dass sich Materie regelrecht nach einer Form sehne.4 Schon hier schwingen geschlechtsspezifische Implikationen der Form-Material-Dualität mit, auf die Judith Butler hingewiesen hat. Einem binären Muster folgend, wird das Material in Rückbezug auf die etymologische Nähe zu „mater“ (lat. Mutter) mit einer Vorstellung von Weiblichkeit aufgeladen, wohingegen die Form zum Ausdruck des männlich gedachten Schöpfers wird.5 Getragen von dieser Konstruktion einer Geschlechterdualität konnte sich das Gefälle zwischen Material und Form um so hartnäckiger halten. Es führte unter anderem zu einer Hierarchisierung unter den Künsten und Materialien, deren Ausläufer bis heute nachwirken.6
Aus heutiger kritischer Perspektive meint Material nun gerade nicht Materie im Sinne eines Urstoffs, sondern Substanzen jeder Art, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich verändern – sei es im Umgang mit ihnen, in der Interaktion untereinander oder mit ihrer Umgebung. Um sich von der Vorstellung zu lösen, wonach Material nur durch menschliches Eingreifen aktiv werden kann, schlägt Petra Lange-Berndt vor, in Komplizenschaft mit dem Material zu treten. Als methodischer Umgang gedacht, sollen wir uns mit dem Material verbünden, ihm folgen und uns mit ihm verhalten. Dabei wird der Umgang mit und das Einlassen auf das Material derartig ernst genommen, dass ein Vorschlag Derridas zum Ziel erklärt wird: Das Material zum Lachen bringen.7
„Und wo wohnst du?“ -„Unbestimmter Wohnsitz“ sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.8
Im Zentrum der Auseinandersetzung mit Materialität steht immer auch das Ding.9 Als Konzept umfasst Materialität jedes greifbare Ding, sei es ein natürliches Gebilde, ein von Hand gefertigter Gegenstand oder ein wie auch immer geartetes physikalisches Objekt, solange es aus Materie besteht. Fast automatisch schließt sich somit an jede Auseinandersetzung mit Dingen und ihrer Materialität eine gesellschaftstheoretische Ebene an, die auf die Untersuchung von Beziehungen abzielt. So geht es immer auch um die Frage, wie analytische Kategorien wie Subjekt und Objekt oder konkrete Entitäten wie Mensch und Ding miteinander interagieren, sei es in Beziehung zueinander oder in sich wechselseitig bedingenden Formen.10
Zum Verhängnis einer materialbezogenen Auseinandersetzung wird dabei oft die grundsätzlich gedachte Differenz zwischen den Seinsweisen von Menschen als Subjekten und Dingen als Objekten. Objekte werden von vornherein passiv gedacht – als etwas, das der Mensch herstellt, benutzt, konsumiert und ausrangiert. Die materielle Welt wird so zur schlichten Kulisse für die sozialen Interaktionen von Menschen untereinander herabgestuft. Stattdessen gilt es zu versuchen, die Beziehung zwischen Mensch und der ihn umgebenden Welt dialektisch zu betrachten. Soziale Interaktionen sind dann nicht mehr etwas, dass allein zwischen Menschen stattfinden kann. Daniel Miller hat in dem Zusammenhang einmal von der humility of things gesprochen, einem Phänomen, das die zentrale, aber meist nicht artikulierte Rolle der materiellen Welt für den Menschen beschreibt.11 Aus geradezu demütiger Stille heraus bevölkern die Dinge jeden Winkel unseres Alltags und formen so unsere sozialen Beziehungen nachhaltig mit. Menschen und Dinge, sowie Dinge untereinander stehen dabei in einem verstrickten Beziehungsgeflecht.12 Statt von statischen ontologischen Zuschreibungen auszugehen, muss der Blick auf den performativen Aspekt dieser Verstrickungen gelenkt werden. Mit nachhaltiger Resonanz formulierten Bruno Latour und John Law die Vorstellung eines heterogenen Netzwerks, in dem Mensch und Ding einander symmetrisch gegenüberstehen und in wechselseitig transformierenden Beziehungen verflochten sind. Auch wenn es dabei nicht um die Überwindung der Objekt/Subjekt-Dichotomie geht oder den Versuch, Dingen ein intentionales Handeln zu attestieren, ist es doch der Versuch, handeln und agency (Handlungsmacht) als nicht per se menschlich zu denken. Es ist unbestreitbar, dass Dinge Situationen verändern. Wie Latour sagt: Wer würde behaupten, es sei dasselbe, einen Nagel mit oder ohne Hammer in die Wand zu hauen? Der Punkt ist, anzuerkennen, dass Dinge und Menschen in Kollektiven gleichermaßen an der Bildung sozialer Netzwerke mitwirken und die Gesellschaft strukturieren. Handlungsmacht wird dabei als etwas Prozessuales verstanden, das sich aus der Beziehung zwischen Menschen und Nicht- Menschlichem entwickelt. Es beschreibt keine Eigenschaft, die natürlich gegeben ist. So ist auch das Attribut sozial kein per se menschliches. Entitäten oder Akteure werden immer nur in dem Moment sozial, in dem sie zusammentreffen oder sich umgruppieren.13 Auch wenn es nicht das erklärte Ziel war, kann vor diesem Hintergrund die grundsätzlich angenommene Differenz zwischen Subjekt und Objekt nicht länger aufrechterhalten werden.
Als hinge ein Fluch über den Dingen, verbleiben diese schlafend wie die Dienerschaft eines verwunschenen Schlosses. Doch sobald sie vom Bann erlöst werden, beginnen sie sich zu regen, zu recken und zu murmeln. Sie fangen an, in alle Richtungen auszuschwärmen, schütteln die menschlichen Akteure, wecken sie aus ihrem dogmatischen Schlaf.14
Endgültig ins Wanken gerät die banale Sicherheit, die wir aus der strikten Trennung von Menschen und Dingen ziehen, wenn die Dinge plötzlich zu sprechen beginnen. In der von ihr herausgegeben Sammelschrift Things That Talk (2004) beschäftigt sich Lorraine Daston mit Dingen, deren Handlungsmacht sich durch die Fähigkeit zu sprechen ausdrückt.15 Sich auf diesen Blickwinkel einzulassen, bedeutet zunächst eine Absage an den cartesianischen Anthropozentrismus, wonach das Monopol der Sprache beim Menschen liegt und Dinge im besten Fall wiederholen können, was Menschen sagen. Der Kritik, dass jede noch so gut gemeinte Vorstellung von sprechenden Dingen am Ende eine metaphorische bleiben muss, entgegnet Daston mit der Frage: „If we humans do all the talking, why do we need things not only to talk about but to talk with?”16 Der Argumentation willen lohnt es sich, den Status des Objekts für einen Moment als paradox zu akzeptieren und tatsächlich einmal zu versuchen, hinzuhören. So sind es nämlich gerade jene Dinge, die sich zwischen Arten bewegen, die zu uns sprechen. Redselige Dinge zeichnen sich laut Daston dadurch aus, dass sie Chimär en sind. Sie sind zusammengesetzt, nicht aus verschiedenen Elementen der gleichen Art, sondern aus verschiedenen Spezies. Die Übertretung von Gattungsgrenzen, sei es Kunst und Natur, Mensch und Ding, Objekt und Subjekt vereinen sich in ihnen, werden zum Charakteristikum. Die Dinge, die sprechen, sind immer Grenzgänger. Konkret ist es die Spannung zwischen der chimärischen Zusammensetzung des Dings auf der einen Seite und seiner einheitlichen Gestalt auf der anderen, die das Ding redselig werden lässt.
Fast unheimlich kann es sein, wie sich Dinge, die eben noch so stumm, demütig und in sich geschlossen dalagen, im nächsten Moment unserer Kontrolle entziehen. Dann lassen sie uns zurück mit den Worten: „Ich habe gesprochen. Du kannst gehen.“
1 Der Epigraphik-Experte Mario Burzachechi hat vorgeschlagen, dieses Phänomen mit dem Begriff „Oggetti Parlanti“ (Sprechende Objekte) zu fassen. Siehe Mario Burzachechi: „Oggetti parlanti nelle epigrafi greche“, in: Epigraphica 24, 1962, S. 3–54.
2 Aus der Anthropologie ging das fächerübergreifende Forschungsfeld der Material Culture Studies hervor, die theoretische Strömung dahinter wurde New Materialism genannt und in den Kulturwissenschaften war plötzlich von einem material turn die Rede. Für einen
aktuellen Überblick, der ältere und neue Blickwinkel dieser Forschung zusammenführt: Materiality, hg. von Petra Lange-Berndt, London 2015.
3 Im folgenden Text werden ausgewählte Stimmen aus unterschiedlichen Disziplinen laut, die auf die ein oder andere Weise Anteil an dieser Forschung haben. Als Schirmherr*innen sollen sie meinen fragmentarischen Blinkwinkel abstützen.
4 Er führt weiter aus: „[...] so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem“ begehrt. Siehe Aristoteles: Physik, 192a22f.; dt.: Physik, griech./dt., übers. u. hg. v. H.G. Zekl, Bd. 1, Hamburg 1987, S. 46f.
5 Siehe Judith Butler: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex, New York/London 1993.
6 Die Künste, die unabhängig von einer materialen Realisierung waren (Dichtung, Musik), wurden höher bewertet als diejenigen, die an eine konkrete physische Form gebunden waren (Bildende Künste). Es galt die Vorstellung, dass ein immaterieller Ausdruck näher an die zugrundeliegende Idee heranreichen könne. So wurde innerhalb der Bildenden Künste etwa die Zeichnung höher bewertet, weil sie in ihrer vergleichsweise zurückhaltenden Materialität die direkte Nähe zum Geist abbildete, wohingegen Skulptur an den physischen Körper gebunden war und damit in der Gunst fiel. Siehe Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001.
7 Siehe Petra Lange-Berndt: „Introduction. How to Be Complicit with Materials”, in: Materiality, hg. von ders., London 2015, S. 12–23 und Derrida, Jacques: „Dematerialization, Matériau, Matériel” [1985], in: ders. S. 207–208.
8 Aus: Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters, 1917.
9 An dieser Stelle wird bewusst der Begriff „Ding“ in Abgrenzung von „Objekt“ eingesetzt. Das Ding ist selbstgenügend und seine Essenz kann nicht allein über sein Äußeres, die Wahrnehmung von ihm oder wissenschaftliche Theorien gefasst werden.
10 Siehe Angeliki Karagianni, Jürgen Paul Schwindt und Christina Tsouparopoulou: „Materialität*“, in: Materiale Textkulturen, hg. von Ludger Lieb, Berlin/München/Boston 2015, S. 33–46.
11 Siehe Daniel Miller: Material Culture and Mass Consumption, Oxford 1987.
12 Ian Hodder hat dafür den Begriff entanglement geprägt. Siehe Ian Hodder: Entangled. An Archaeology of the Relationships between Humans and Things, Chichester 2012.
13 Siehe Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005.
14 Ebd. S. 127.
15 Siehe Lorraine Daston: „Introduction. Speechless“, in: Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, hg. von ders. New York 2004, S. 9–26.
16 Ebd. S. 12.
Eisbrecher für erste Gespräche
Helena Müller
Es gibt den merkwürdigen Umstand, dass Inschriften auf antiken Vasen, Statuen oder Grabsteinen gelegentlich in der ersten Person abgefasst sind. Aufgrund fehlender Abstände zwischen den Worten erschließt sich der Textdabei erst beim lauten Lesen.1 Auf einer Amphore aus dem 6. Jahrhundert lesen wir „Kleimachos hat mich gemacht und ich gehöre ihm“ – das Objekt wird in der ersten Person beschrieben und der tatsächlich Schreibende in der dritten Person. Wird Kleimachos zum Zeitpunkt des Lesens nicht mehr hier sein, wird die Amphore dagegen weiterhin existieren.Dass die Lesenden zum Sprachrohr der Amphore werden, kann dabei durchaus als Überwältigung durch das sprechende Artefakt empfunden werden. So beendet auch ein römischer Grabstein aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. seine Inschrift sehr bestimmt mit den Worten: Dixi. Abei. (Ich habe gesprochen. Du kannst gehen.)
Ein gewachsenes Interesse an der materialen Dimension unserer Welt ist in den Geisteswissenschaften erst seit den 90er Jahren zu verzeichnen.2 Mittlerweile hat sich daraus ein heterogenes und interdisziplinäres Forschungsfeld entwickelt, dem die gemeinsame Überzeugung zugrunde liegt, dass Materialität und damit die Welt der Dinge integraler Bestandteil der Kultur, des sozialen Lebens und der menschlichen Erfahrung ist.3
Dass es so lange gedauert hat, diesen doch naheliegenden Gedanken zum Gegenstand akademischer Forschung zu machen, liegt mitunter an der bis in die Antike zurückgehenden philosophischen Bedeutungslast, die das Material mit sich herumträgt. Mit seiner Nähe zur Materie, im Sinne ungeformter Stofflichkeit, war Material bis weit in die Frühe Neuzeit negativ konnotiert. Dem lag die von Platon ausgehende idealistische Tradition zugrunde, die eine dualistische Beziehung zwischen Welt und Geist und damit Material und Form entworfen hatte. Die Vorstellung etablierte sich, wonach Material erst durch künstlerische Formgebung zu Etwas wurde. Es musste durch Gestaltung regelrecht überwunden werden. So wurde die Form zum aktiven Gegenspieler, der den notwendigen Korrespondenzbegriff zum passiven Material bildete. Aristoteles formulierte, dass sich Materie regelrecht nach einer Form sehne.4 Schon hier schwingen geschlechtsspezifische Implikationen der Form-Material-Dualität mit, auf die Judith Butler hingewiesen hat. Einem binären Muster folgend, wird das Material in Rückbezug auf die etymologische Nähe zu „mater“ (lat. Mutter) mit einer Vorstellung von Weiblichkeit aufgeladen, wohingegen die Form zum Ausdruck des männlich gedachten Schöpfers wird.5 Getragen von dieser Konstruktion einer Geschlechterdualität konnte sich das Gefälle zwischen Material und Form um so hartnäckiger halten. Es führte unter anderem zu einer Hierarchisierung unter den Künsten und Materialien, deren Ausläufer bis heute nachwirken.6
Aus heutiger kritischer Perspektive meint Material nun gerade nicht Materie im Sinne eines Urstoffs, sondern Substanzen jeder Art, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich verändern – sei es im Umgang mit ihnen, in der Interaktion untereinander oder mit ihrer Umgebung. Um sich von der Vorstellung zu lösen, wonach Material nur durch menschliches Eingreifen aktiv werden kann, schlägt Petra Lange-Berndt vor, in Komplizenschaft mit dem Material zu treten. Als methodischer Umgang gedacht, sollen wir uns mit dem Material verbünden, ihm folgen und uns mit ihm verhalten. Dabei wird der Umgang mit und das Einlassen auf das Material derartig ernst genommen, dass ein Vorschlag Derridas zum Ziel erklärt wird: Das Material zum Lachen bringen.7
„Und wo wohnst du?“ -„Unbestimmter Wohnsitz“ sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.8
Im Zentrum der Auseinandersetzung mit Materialität steht immer auch das Ding.9 Als Konzept umfasst Materialität jedes greifbare Ding, sei es ein natürliches Gebilde, ein von Hand gefertigter Gegenstand oder ein wie auch immer geartetes physikalisches Objekt, solange es aus Materie besteht. Fast automatisch schließt sich somit an jede Auseinandersetzung mit Dingen und ihrer Materialität eine gesellschaftstheoretische Ebene an, die auf die Untersuchung von Beziehungen abzielt. So geht es immer auch um die Frage, wie analytische Kategorien wie Subjekt und Objekt oder konkrete Entitäten wie Mensch und Ding miteinander interagieren, sei es in Beziehung zueinander oder in sich wechselseitig bedingenden Formen.10
Zum Verhängnis einer materialbezogenen Auseinandersetzung wird dabei oft die grundsätzlich gedachte Differenz zwischen den Seinsweisen von Menschen als Subjekten und Dingen als Objekten. Objekte werden von vornherein passiv gedacht – als etwas, das der Mensch herstellt, benutzt, konsumiert und ausrangiert. Die materielle Welt wird so zur schlichten Kulisse für die sozialen Interaktionen von Menschen untereinander herabgestuft. Stattdessen gilt es zu versuchen, die Beziehung zwischen Mensch und der ihn umgebenden Welt dialektisch zu betrachten. Soziale Interaktionen sind dann nicht mehr etwas, dass allein zwischen Menschen stattfinden kann. Daniel Miller hat in dem Zusammenhang einmal von der humility of things gesprochen, einem Phänomen, das die zentrale, aber meist nicht artikulierte Rolle der materiellen Welt für den Menschen beschreibt.11 Aus geradezu demütiger Stille heraus bevölkern die Dinge jeden Winkel unseres Alltags und formen so unsere sozialen Beziehungen nachhaltig mit. Menschen und Dinge, sowie Dinge untereinander stehen dabei in einem verstrickten Beziehungsgeflecht.12 Statt von statischen ontologischen Zuschreibungen auszugehen, muss der Blick auf den performativen Aspekt dieser Verstrickungen gelenkt werden. Mit nachhaltiger Resonanz formulierten Bruno Latour und John Law die Vorstellung eines heterogenen Netzwerks, in dem Mensch und Ding einander symmetrisch gegenüberstehen und in wechselseitig transformierenden Beziehungen verflochten sind. Auch wenn es dabei nicht um die Überwindung der Objekt/Subjekt-Dichotomie geht oder den Versuch, Dingen ein intentionales Handeln zu attestieren, ist es doch der Versuch, handeln und agency (Handlungsmacht) als nicht per se menschlich zu denken. Es ist unbestreitbar, dass Dinge Situationen verändern. Wie Latour sagt: Wer würde behaupten, es sei dasselbe, einen Nagel mit oder ohne Hammer in die Wand zu hauen? Der Punkt ist, anzuerkennen, dass Dinge und Menschen in Kollektiven gleichermaßen an der Bildung sozialer Netzwerke mitwirken und die Gesellschaft strukturieren. Handlungsmacht wird dabei als etwas Prozessuales verstanden, das sich aus der Beziehung zwischen Menschen und Nicht- Menschlichem entwickelt. Es beschreibt keine Eigenschaft, die natürlich gegeben ist. So ist auch das Attribut sozial kein per se menschliches. Entitäten oder Akteure werden immer nur in dem Moment sozial, in dem sie zusammentreffen oder sich umgruppieren.13 Auch wenn es nicht das erklärte Ziel war, kann vor diesem Hintergrund die grundsätzlich angenommene Differenz zwischen Subjekt und Objekt nicht länger aufrechterhalten werden.
Als hinge ein Fluch über den Dingen, verbleiben diese schlafend wie die Dienerschaft eines verwunschenen Schlosses. Doch sobald sie vom Bann erlöst werden, beginnen sie sich zu regen, zu recken und zu murmeln. Sie fangen an, in alle Richtungen auszuschwärmen, schütteln die menschlichen Akteure, wecken sie aus ihrem dogmatischen Schlaf.14
Endgültig ins Wanken gerät die banale Sicherheit, die wir aus der strikten Trennung von Menschen und Dingen ziehen, wenn die Dinge plötzlich zu sprechen beginnen. In der von ihr herausgegeben Sammelschrift Things That Talk (2004) beschäftigt sich Lorraine Daston mit Dingen, deren Handlungsmacht sich durch die Fähigkeit zu sprechen ausdrückt.15 Sich auf diesen Blickwinkel einzulassen, bedeutet zunächst eine Absage an den cartesianischen Anthropozentrismus, wonach das Monopol der Sprache beim Menschen liegt und Dinge im besten Fall wiederholen können, was Menschen sagen. Der Kritik, dass jede noch so gut gemeinte Vorstellung von sprechenden Dingen am Ende eine metaphorische bleiben muss, entgegnet Daston mit der Frage: „If we humans do all the talking, why do we need things not only to talk about but to talk with?”16 Der Argumentation willen lohnt es sich, den Status des Objekts für einen Moment als paradox zu akzeptieren und tatsächlich einmal zu versuchen, hinzuhören. So sind es nämlich gerade jene Dinge, die sich zwischen Arten bewegen, die zu uns sprechen. Redselige Dinge zeichnen sich laut Daston dadurch aus, dass sie Chimär en sind. Sie sind zusammengesetzt, nicht aus verschiedenen Elementen der gleichen Art, sondern aus verschiedenen Spezies. Die Übertretung von Gattungsgrenzen, sei es Kunst und Natur, Mensch und Ding, Objekt und Subjekt vereinen sich in ihnen, werden zum Charakteristikum. Die Dinge, die sprechen, sind immer Grenzgänger. Konkret ist es die Spannung zwischen der chimärischen Zusammensetzung des Dings auf der einen Seite und seiner einheitlichen Gestalt auf der anderen, die das Ding redselig werden lässt.
Fast unheimlich kann es sein, wie sich Dinge, die eben noch so stumm, demütig und in sich geschlossen dalagen, im nächsten Moment unserer Kontrolle entziehen. Dann lassen sie uns zurück mit den Worten: „Ich habe gesprochen. Du kannst gehen.“
1 Der Epigraphik-Experte Mario Burzachechi hat vorgeschlagen, dieses Phänomen mit dem Begriff „Oggetti Parlanti“ (Sprechende Objekte) zu fassen. Siehe Mario Burzachechi: „Oggetti parlanti nelle epigrafi greche“, in: Epigraphica 24, 1962, S. 3–54.
2 Aus der Anthropologie ging das fächerübergreifende Forschungsfeld der Material Culture Studies hervor, die theoretische Strömung dahinter wurde New Materialism genannt und in den Kulturwissenschaften war plötzlich von einem material turn die Rede. Für einen
aktuellen Überblick, der ältere und neue Blickwinkel dieser Forschung zusammenführt: Materiality, hg. von Petra Lange-Berndt, London 2015.
3 Im folgenden Text werden ausgewählte Stimmen aus unterschiedlichen Disziplinen laut, die auf die ein oder andere Weise Anteil an dieser Forschung haben. Als Schirmherr*innen sollen sie meinen fragmentarischen Blinkwinkel abstützen.
4 Er führt weiter aus: „[...] so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem“ begehrt. Siehe Aristoteles: Physik, 192a22f.; dt.: Physik, griech./dt., übers. u. hg. v. H.G. Zekl, Bd. 1, Hamburg 1987, S. 46f.
5 Siehe Judith Butler: Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex, New York/London 1993.
6 Die Künste, die unabhängig von einer materialen Realisierung waren (Dichtung, Musik), wurden höher bewertet als diejenigen, die an eine konkrete physische Form gebunden waren (Bildende Künste). Es galt die Vorstellung, dass ein immaterieller Ausdruck näher an die zugrundeliegende Idee heranreichen könne. So wurde innerhalb der Bildenden Künste etwa die Zeichnung höher bewertet, weil sie in ihrer vergleichsweise zurückhaltenden Materialität die direkte Nähe zum Geist abbildete, wohingegen Skulptur an den physischen Körper gebunden war und damit in der Gunst fiel. Siehe Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001.
7 Siehe Petra Lange-Berndt: „Introduction. How to Be Complicit with Materials”, in: Materiality, hg. von ders., London 2015, S. 12–23 und Derrida, Jacques: „Dematerialization, Matériau, Matériel” [1985], in: ders. S. 207–208.
8 Aus: Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters, 1917.
9 An dieser Stelle wird bewusst der Begriff „Ding“ in Abgrenzung von „Objekt“ eingesetzt. Das Ding ist selbstgenügend und seine Essenz kann nicht allein über sein Äußeres, die Wahrnehmung von ihm oder wissenschaftliche Theorien gefasst werden.
10 Siehe Angeliki Karagianni, Jürgen Paul Schwindt und Christina Tsouparopoulou: „Materialität*“, in: Materiale Textkulturen, hg. von Ludger Lieb, Berlin/München/Boston 2015, S. 33–46.
11 Siehe Daniel Miller: Material Culture and Mass Consumption, Oxford 1987.
12 Ian Hodder hat dafür den Begriff entanglement geprägt. Siehe Ian Hodder: Entangled. An Archaeology of the Relationships between Humans and Things, Chichester 2012.
13 Siehe Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005.
14 Ebd. S. 127.
15 Siehe Lorraine Daston: „Introduction. Speechless“, in: Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, hg. von ders. New York 2004, S. 9–26.
16 Ebd. S. 12.