English version below
Mehr-als Gefährten
von Pauline Hafsia M’barek
Was für ein Gefühl entsteht, wenn man auf ein Schneckenhaus tritt? Unter den Füßen ein kaum merklicher Widerstand, das leise Knacken eines feinen Gehäusepanzers, der sich auf das schleimige Innere drückt, dann glitschig in sich zusammenkracht. Ekel oder doch auch ein bisschen Lust?
Mira Siering verbrachte in Heiligenrode ein knappes Jahr. Die geographische Abgeschiedenheit und die Beschäftigung mit ihrer Umgebung führten zunächst zu intensiven, landschaftlichen Erkundungen, zu ausgedehnten Fahrradtouren und langen Spaziergängen. Sie sammelte Pflanzen, Steine, Äste und machte fotografische Notizen von natürlichen Assemblagen: Nacktschnecken, auf deren schleimigem Rücken sich Pflanzenteile festsetzen, zerfaserndes Holz, das kaum mehr vom bröckelnden, braunen Untergrund zu unterscheiden ist, eine verendete Katze, deren Fell sich durch den eingefallenen Körper nun wellenförmig dem umliegenden Grasfeld anzugleichen scheint, wunderlich geformte Baumwurzeln und Äste. Wie verhalten sich nun aber die eigentümlichen Baumtriebe und -verzweigungen zu unserem eigenen Körper? Einige dieser Äste nahm sie mit ins Atelier und formte sie halbseitig mit Gips ab. Beim Herausnehmen der Äste zerbrachen jedoch die Gipsformen. Mit dünnen Wachsstäben, die sie in den Innenseiten der aneinander gelegten Gipsstücke anschmolz, wurden die Bruchstellen durch das in die Ritzen fließende Wachs verklebt und so die Form als Ganzes gehalten.
Die Arbeit Ohne Titel (Beine) zeigt lange, weiße Formen mit verschiedenen Krümmungen, die an Knochen oder auch verkümmerte Chromosomen erinnern. Sie berühren sacht den Boden und stehen grazil, können sich jedoch nur mittels eines an der Decke hängenden Drahtseils aufrecht halten, das sich durch die an den Formen angebrachten Metallschellen hindurchwindet und diese wie eine Raumzeichnung miteinander verbindet. Die am oberen Rand befestigten Schellen wirken wie Fesseln, die die gebrechlichen Objekte emporheben und sie aber zugleich fest an sich binden. Die Skulpturen stehen in verschiedenen Formationen, sind einander zugewandt und scheinen miteinander zu kommunizieren. Man denkt an Gehhilfen, Prothesen und damit verbunden – an erste, unbeholfene Gehversuche. Während die weiße Außenseite der Skulpturen den gestischen Gipseinstrich zeigt, erblickt man in der konkaven Innenseite neben den schimmernden Wachsstäben Spuren des Abdrucks der Äste, wie auch kleine Zweigreste. Es kehrt sich hier etwas im Verhältnis um: das Innere, das Mark des Holzes, was sonst weiß ist, ist im Außen, während sich im Inneren die unebene, gerippte Struktur sowie die braune Farbe der Rinde abdrückt. Mira Sierings Formfindungsverfahren sind komplexer Natur. Ihre Arbeiten entstehen in einem langsamen Prozess der Materialerforschung, dem Erkunden seiner Eigenschaften, Aggregatzustände und materialspezifischen Grenzen. Dieses Erfahrungswissen überführt sie jedoch nicht etwa in die handwerklich-technische, virtuose Beherrschung der jeweiligen Abformtechniken, sondern dokumentiert die Formgenese und ihr potentielles Scheitern durch die Form selbst. Der Abformprozess wird solchermaßen sichtbar, indem sie Matrize und Abdruck, Negativ und Positiv, nicht voneinander trennt, sondern in ihrer untrennbaren Verbindung sichtbar macht und sozusagen Sowohl-als-auch-Skulpturen herstellt. Wie zum Beispiel, wenn sie auf die nassen Schnittflächen von Baumstümpfen großflächig Alginat verteilt, dieses trocknen lässt und dann die so entstehende labile, elastische Form ins Atelier transportiert. Das Alginat-Negativ wird nun rückseitig mit einer Gipsschicht verstärkt, um dann mit dem formgebenden Negativ einen maßstabsgetreuen Gipsabguss des Baumstumpfs zu erzeugen. Die Abformmasse wird danach jedoch nicht entfernt, um einen unverstellten Blick auf das Positiv zu erlauben, sondern verbleibt im Abdruck, zieht sich zusammen, schrumpft. Der Abdruck wird nur an den Stellen sichtbar, wo sich das Alginat, gleich einer Haut, vom Gips abgelöst hat. In die flügelartigen Plastiken der Arbeitsgruppe Irgendwann wird alles Boden werden nun Löcher gebohrt, die jeweils zwei Gipsplatten, bzw. Abdrücke von Baumstümpfen, durch Aluminiumrohre miteinander verbinden und so standfest machen. Die Aufreihung mehrerer Gipsplatten lässt in ihrer zickzackförmigen Ausrichtung an einen derangierten Paravent denken.
So entstehen grob zerfurchte, sich aufblätternde Formen, die durch die Metallverbindung an durchbohrte und solchermaßen verwundete Körper erinnern. Dadurch, dass die mit Gips verstärkte Alginatfläche hinterlassen wurde, erscheint sie gleich einem Pflaster auf der offenen Wunde des Hieborts, welches die Spuren der Oberfläche des Baumstumpfs zeigt. Auch die Arbeit Previous (Wurzel / Irgendwann wird alles Boden) entstand aus der Übertragung und Beobachtung der natürlichen Verfallsprozesse auf die plastische Arbeit: Prozesse, die sich in der Natur erst durch den Jahreslauf zeigen, wenn die Materie durch Mikroorganismen, Pilze und Bodentiere zersetzt werden. Ein abgestorbener Wurzelstock aus dem Wald wurde im Atelier mit mehreren Tonplatten abgeformt, das Innere mit grün gefärbtem Alginat ausgegossen und dann wieder eingegipst. Durch das Eintrocknen des Alginats wurde die umgebende Gipshülle instabil und löchrig. Es entstanden Durchbrüche, die nun den Blick auf die geschrumpfte, grünliche Replik des Baumstumpfes preisgeben. Die große amorphe, aufgebrochene Form liegt nun auf dem Boden. Das durch die Bruchstellen einsehbare undefinierbare Innere lässt an ein Weichtier denken, welches trotz mehrfacher Ausbruchsversuche nicht mehr herauskam und in seinem weißen Kalk-Panzer vertrocknet ist.
Der hintergründige Ausstellungstitel Du sagst, es ist anders adressiert die betrachtende Person direkt und tritt mit ihr in Korrespondenz. Die Definition wird dabei ins Außen verlagert, jegliche Interpretation wird negiert mit dem Verweis auf die Abweichung, dem Insistieren auf Differenz. Es ist anders, ich ist ein Anderer. Das Lebendige ist immer widersprüchlich, metamorph, wuchernd, porös und mehr als.
Dementsprechend ist Sierings Arbeitsweise von einer prinzipiellen Offenheit und experimentellen Neugier für das, was sich ihr durch und im Material zeigt, geprägt. Der Prozess der Formentstehung ist dabei schwer entschlüsselbar, bleibt rätselhaft und uneindeutig, da sich die Verhältnisse von Innen und Außen, Form und Materie, beständig verkehren. Die durch diese herausfordernde und prozessorientierte Arbeitsweise entstehenden Objekte, wirken dabei zunächst spröde, roh und provisorisch. Sie erscheinen ungeformt, abgespannt; sie schwächeln. Sie stehen nicht aufrecht, sondern müssen in ihrer fragilen Präsenz durch Seile oder Metallhalterungen gestützt werden. Sie haben Bruchstellen, Nähte, Risse und bezeugen so die Grenzen und Widerstände ihres Entstehungsmaterials. Zugleich sind sie jedoch voll vibrierender Empfindsamkeit, Labilität und Verspieltheit. Sie tänzeln und wollen verführen. Man könnte diese verwundbaren Formen, die Mira Siering auch Gefährten nennt, als gebaute Gefühle bezeichnen. Zwischen den einzelnen Arbeiten entsteht so ein vieldeutiges, sinnliches Spannungsgefüge, welches die Betrachtenden affiziert und sie mit den Objekten, bzw. Subjekten, in eine dynamische Gemengelage treten lässt. Sierings Objekte tragen solchermaßen die multiplen Spuren ihres Formwerdens und -vergehens in sich und machen die komplexen Stoffwechselprozesse der mehr-als-menschlichen Mitwelt erfahrbar. Diese sind jedoch nicht mit der Aussetzung der Arbeiten im Ausstellungsraum beendet, sondern setzen sich unmerklich fort: Gips, Wachs, Alginat reagieren auf Temperatur- und Feuchtigkeitsveränderungen und transformieren sich weiterhin.
Irgendwann wird der Gips feucht und spröde, das Alginat eintrocknen, das Wachs brüchig oder durch Sonnenwärme hinwegschmelzen. Irgendwann wird Schnecke, wird Katze, wird Mensch, wird Ast, wird Baumstumpf morsch, schimmelig, faulig, aasig. Verrottet, vermodert, verwest. Wird Kompost. Irgendwann wird alles Boden.
Anmerkung: Im Text wurden die Wörter „Gefährten“ und „Anderer“ nicht gegendert, da sie im Kontext des Textes nicht geschlechtsspezifisch verstanden, sondern als abstrakte Begrifflichkeiten verwendet werden.
More-than Companions
Pauline Hafsia M’barek
What does it feel like to step on a snail? A barely perceptible resistance underfoot, the soft cracking of a fine shell pressing down on the slimy interior, then collapsing. Disgust or a bit of lust?
Mira Siering spent just under a year in Heiligenrode. The geographical seclusion and the preoccupation with her surroundings initially led to intensive explorations of the landscape, to extended bicycle tours and long walks. She collected plants, stones, branches and took photographic notes of natural assemblages: slugs with bits of plants stuck to their slimy backs, rotten wood that can hardly be distinguished from the crumbling brown underground, the collapsed body of a dead cat whose fur seems to blend in with the surrounding grass, oddly shaped roots and branches. But how do the peculiar tree sprouts and branches relate to our own bodies? Some of these branches she took to the studio and moulded in plaster on one side. When the branches were removed, the plaster moulds broke. By melting thin wax rods inside the plaster pieces placed against each other, the broken parts were glued together by the wax flowing into the cracks, holding the form as a whole.
The work Ohne Titel (Beine) 1 hows long, white forms with various curvatures, reminiscent of bones or even vestigial chromosomes. They gently touch the floor and stand gracefully, but can only hold themselves upright with the help of a wire rope hanging from the ceiling which winds through metal clamps attached to the forms and connects them like a spatial drawing. The clamps attached to the upper edge act like shackles, lifting the fragile objects up but simoultaneously binding them tightly to themselves. The sculptures stand in different formations, facing each other and communicating. One thinks of walking aids, prostheses and of first, clumsy attempts to walk. While the white outside of the sculptures shows the gestural plaster coating, the concave inside reveals imprints of branches and even small branch remnants next to the shimmering wax rod. The relation seems to be reversed here; the inside, the marrow of the wood, which is normally white, is on the outside, while on the inside the uneven, ribbed structure and the brown colour of the bark have left their mark.
Mira Siering‘s form-finding processes are complex in nature. Her works are created in a slow process of material research, exploring their properties, aggregate states and materialspecific limits. Nonetheless she does not transfer this experiential knowledge into a technical mastery of the respective moulding techniques, but rather documents the genesis of form and its potential failure by the form itself. The moulding process becomes visible in that she does not separate matrix and impression, negative and positive, from each other, but makes them visible in their inseparable connection and creates, so to speak, both-and sculptures. As, for example, when she spreads alginate over large areas of the wet cut surfaces of tree stumps, lets it dry and transports the resulting unstable, elastic form to the studio. The alginate negative is now reinforced with a layer of plaster on the back in order to subsequently produce a true-to-scale plaster cast of the tree stump with the negative mold. However, the casting material is not removed afterwards to allow an unobstructed view of the positive, but remains in the imprint, contracts, shrinks. The imprint only becomes visible in the places where the alginate has detached from the plaster like a skin. Holes are now drilled into the wing-like sculptures of the group Irgendwann wird alles Boden 2, each of which connects two plasterboards, or imprints of tree stumps, with aluminium tubes making them stable.
The zigzag alignment of several plasterboards is reminiscent of a dishevelled screen. In this way, coarsly furrowed, unfolding forms are created, which, due to the metal connection, remind one of pierced and thus wounded bodies. Since the plaster-reinforced alginate was not removed, it acts like a band-aid on the open wound of the cut showing traces of the tree stump’s surface. The work Previous (Wurzel / Irgendwann wird alles Boden) 3 also emerged from the observation and the transfer of natural decay processes to sculptural work. Processes that only become apparent in nature through the course of the year, when matter is decomposed by microorganisms, fungi and soil animals. A dead root stump from the forest was moulded in the studio with several clay slabs, the inside was filled with green-coloured alginate and then plastered again. As the alginate dried out, the surrounding plaster shell became unstable and full of cavities. This created apertures that reveal the shrunken, greenish replica of the tree stump. The large amorphous, broken form now lies on the floor. The indefinable interior visible through the fractures is reminiscent of a mollusc which, despite several attempts to break out, has not been able to do so and has dried up in its white lime shell.
The cryptic exhibition title Du sagst, es ist anders 4 addresses the viewer directly. The act of definition is shifted to the outside, any interpretation is negated by referring to deviation, insisting on difference. It is different, I is another. The living is always contradictory, metamorphic, proliferating, porous and more than.
Accordingly, Siering‘s working method is characterised by a general openness and experimental curiosity about what reveals itself to her through and in the material. The process of creating form is thereby diffcult to decipher, remains enigmatic and ambiguous, as the relationships between inside and outside, form and matter, are constantly reversed. The objects created by this challenging and process-oriented way of working initially appear brittle, raw and provisional. They seem unformed, strained; they weaken. They do not stand upright, but must be supported in their fragile presence by ropes or metal brackets.
They show fractures, seams and cracks bearing witness to the limits and resistances of their original material. At the same time, however, they are full of vibrating sensitivity, lability and playfulness. They dance, wanting to seduce. One could call these vulnerable forms, which Mira Siering also calls companions, constructed feelings. An ambiguous, sensual structural tension is created between the individual works, affecting the viewers by placing them in a dynamic entanglement with the objects or subjects. In this way Siering‘s objects bear the manifold traces of the becoming and passing of forms that make the complex metabolic processes of the more-than-human co-world tangible. Yet they do not end with the exposure of the works in the exhibition space, but continue imperceptibly: plaster, wax, alginate react to changes in temperature and humidity and continue to transform. At some point, the plaster will become damp and delicate, the alginate will dry out, the wax will become brittle or melt away due to the heat of the sun.
At some point a snail, a cat, a human being, a branch, a tree stump will become rotten, mouldy, putrid, ashy. Rotting, mouldering, decaying. Becoming compost. At some point everything turns back to soil.
1 Untitled (Legs)
2 Everything turns back to soil
3 Previous (Root / Everything turns back to soil)
4 You say it‘s different
English version below
Mehr-als Gefährten
von Pauline Hafsia M’barek
Was für ein Gefühl entsteht, wenn man auf ein Schneckenhaus tritt? Unter den Füßen ein kaum merklicher Widerstand, das leise Knacken eines feinen Gehäusepanzers, der sich auf das schleimige Innere drückt, dann glitschig in sich zusammenkracht. Ekel oder doch auch ein bisschen Lust?
Mira Siering verbrachte in Heiligenrode ein knappes Jahr. Die geographische Abgeschiedenheit und die Beschäftigung mit ihrer Umgebung führten zunächst zu intensiven, landschaftlichen Erkundungen, zu ausgedehnten Fahrradtouren und langen Spaziergängen. Sie sammelte Pflanzen, Steine, Äste und machte fotografische Notizen von natürlichen Assemblagen: Nacktschnecken, auf deren schleimigem Rücken sich Pflanzenteile festsetzen, zerfaserndes Holz, das kaum mehr vom bröckelnden, braunen Untergrund zu unterscheiden ist, eine verendete Katze, deren Fell sich durch den eingefallenen Körper nun wellenförmig dem umliegenden Grasfeld anzugleichen scheint, wunderlich geformte Baumwurzeln und Äste. Wie verhalten sich nun aber die eigentümlichen Baumtriebe und -verzweigungen zu unserem eigenen Körper? Einige dieser Äste nahm sie mit ins Atelier und formte sie halbseitig mit Gips ab. Beim Herausnehmen der Äste zerbrachen jedoch die Gipsformen. Mit dünnen Wachsstäben, die sie in den Innenseiten der aneinander gelegten Gipsstücke anschmolz, wurden die Bruchstellen durch das in die Ritzen fließende Wachs verklebt und so die Form als Ganzes gehalten.
Die Arbeit Ohne Titel (Beine) zeigt lange, weiße Formen mit verschiedenen Krümmungen, die an Knochen oder auch verkümmerte Chromosomen erinnern. Sie berühren sacht den Boden und stehen grazil, können sich jedoch nur mittels eines an der Decke hängenden Drahtseils aufrecht halten, das sich durch die an den Formen angebrachten Metallschellen hindurchwindet und diese wie eine Raumzeichnung miteinander verbindet. Die am oberen Rand befestigten Schellen wirken wie Fesseln, die die gebrechlichen Objekte emporheben und sie aber zugleich fest an sich binden. Die Skulpturen stehen in verschiedenen Formationen, sind einander zugewandt und scheinen miteinander zu kommunizieren. Man denkt an Gehhilfen, Prothesen und damit verbunden – an erste, unbeholfene Gehversuche. Während die weiße Außenseite der Skulpturen den gestischen Gipseinstrich zeigt, erblickt man in der konkaven Innenseite neben den schimmernden Wachsstäben Spuren des Abdrucks der Äste, wie auch kleine Zweigreste. Es kehrt sich hier etwas im Verhältnis um: das Innere, das Mark des Holzes, was sonst weiß ist, ist im Außen, während sich im Inneren die unebene, gerippte Struktur sowie die braune Farbe der Rinde abdrückt. Mira Sierings Formfindungsverfahren sind komplexer Natur. Ihre Arbeiten entstehen in einem langsamen Prozess der Materialerforschung, dem Erkunden seiner Eigenschaften, Aggregatzustände und materialspezifischen Grenzen. Dieses Erfahrungswissen überführt sie jedoch nicht etwa in die handwerklich-technische, virtuose Beherrschung der jeweiligen Abformtechniken, sondern dokumentiert die Formgenese und ihr potentielles Scheitern durch die Form selbst. Der Abformprozess wird solchermaßen sichtbar, indem sie Matrize und Abdruck, Negativ und Positiv, nicht voneinander trennt, sondern in ihrer untrennbaren Verbindung sichtbar macht und sozusagen Sowohl-als-auch-Skulpturen herstellt. Wie zum Beispiel, wenn sie auf die nassen Schnittflächen von Baumstümpfen großflächig Alginat verteilt, dieses trocknen lässt und dann die so entstehende labile, elastische Form ins Atelier transportiert. Das Alginat-Negativ wird nun rückseitig mit einer Gipsschicht verstärkt, um dann mit dem formgebenden Negativ einen maßstabsgetreuen Gipsabguss des Baumstumpfs zu erzeugen. Die Abformmasse wird danach jedoch nicht entfernt, um einen unverstellten Blick auf das Positiv zu erlauben, sondern verbleibt im Abdruck, zieht sich zusammen, schrumpft. Der Abdruck wird nur an den Stellen sichtbar, wo sich das Alginat, gleich einer Haut, vom Gips abgelöst hat. In die flügelartigen Plastiken der Arbeitsgruppe Irgendwann wird alles Boden werden nun Löcher gebohrt, die jeweils zwei Gipsplatten, bzw. Abdrücke von Baumstümpfen, durch Aluminiumrohre miteinander verbinden und so standfest machen. Die Aufreihung mehrerer Gipsplatten lässt in ihrer zickzackförmigen Ausrichtung an einen derangierten Paravent denken.
So entstehen grob zerfurchte, sich aufblätternde Formen, die durch die Metallverbindung an durchbohrte und solchermaßen verwundete Körper erinnern. Dadurch, dass die mit Gips verstärkte Alginatfläche hinterlassen wurde, erscheint sie gleich einem Pflaster auf der offenen Wunde des Hieborts, welches die Spuren der Oberfläche des Baumstumpfs zeigt. Auch die Arbeit Previous (Wurzel / Irgendwann wird alles Boden) entstand aus der Übertragung und Beobachtung der natürlichen Verfallsprozesse auf die plastische Arbeit: Prozesse, die sich in der Natur erst durch den Jahreslauf zeigen, wenn die Materie durch Mikroorganismen, Pilze und Bodentiere zersetzt werden. Ein abgestorbener Wurzelstock aus dem Wald wurde im Atelier mit mehreren Tonplatten abgeformt, das Innere mit grün gefärbtem Alginat ausgegossen und dann wieder eingegipst. Durch das Eintrocknen des Alginats wurde die umgebende Gipshülle instabil und löchrig. Es entstanden Durchbrüche, die nun den Blick auf die geschrumpfte, grünliche Replik des Baumstumpfes preisgeben. Die große amorphe, aufgebrochene Form liegt nun auf dem Boden. Das durch die Bruchstellen einsehbare undefinierbare Innere lässt an ein Weichtier denken, welches trotz mehrfacher Ausbruchsversuche nicht mehr herauskam und in seinem weißen Kalk-Panzer vertrocknet ist.
Der hintergründige Ausstellungstitel Du sagst, es ist anders adressiert die betrachtende Person direkt und tritt mit ihr in Korrespondenz. Die Definition wird dabei ins Außen verlagert, jegliche Interpretation wird negiert mit dem Verweis auf die Abweichung, dem Insistieren auf Differenz. Es ist anders, ich ist ein Anderer. Das Lebendige ist immer widersprüchlich, metamorph, wuchernd, porös und mehr als.
Dementsprechend ist Sierings Arbeitsweise von einer prinzipiellen Offenheit und experimentellen Neugier für das, was sich ihr durch und im Material zeigt, geprägt. Der Prozess der Formentstehung ist dabei schwer entschlüsselbar, bleibt rätselhaft und uneindeutig, da sich die Verhältnisse von Innen und Außen, Form und Materie, beständig verkehren. Die durch diese herausfordernde und prozessorientierte Arbeitsweise entstehenden Objekte, wirken dabei zunächst spröde, roh und provisorisch. Sie erscheinen ungeformt, abgespannt; sie schwächeln. Sie stehen nicht aufrecht, sondern müssen in ihrer fragilen Präsenz durch Seile oder Metallhalterungen gestützt werden. Sie haben Bruchstellen, Nähte, Risse und bezeugen so die Grenzen und Widerstände ihres Entstehungsmaterials. Zugleich sind sie jedoch voll vibrierender Empfindsamkeit, Labilität und Verspieltheit. Sie tänzeln und wollen verführen. Man könnte diese verwundbaren Formen, die Mira Siering auch Gefährten nennt, als gebaute Gefühle bezeichnen. Zwischen den einzelnen Arbeiten entsteht so ein vieldeutiges, sinnliches Spannungsgefüge, welches die Betrachtenden affiziert und sie mit den Objekten, bzw. Subjekten, in eine dynamische Gemengelage treten lässt. Sierings Objekte tragen solchermaßen die multiplen Spuren ihres Formwerdens und -vergehens in sich und machen die komplexen Stoffwechselprozesse der mehr-als-menschlichen Mitwelt erfahrbar. Diese sind jedoch nicht mit der Aussetzung der Arbeiten im Ausstellungsraum beendet, sondern setzen sich unmerklich fort: Gips, Wachs, Alginat reagieren auf Temperatur- und Feuchtigkeitsveränderungen und transformieren sich weiterhin.
Irgendwann wird der Gips feucht und spröde, das Alginat eintrocknen, das Wachs brüchig oder durch Sonnenwärme hinwegschmelzen. Irgendwann wird Schnecke, wird Katze, wird Mensch, wird Ast, wird Baumstumpf morsch, schimmelig, faulig, aasig. Verrottet, vermodert, verwest. Wird Kompost. Irgendwann wird alles Boden.
Anmerkung: Im Text wurden die Wörter „Gefährten“ und „Anderer“ nicht gegendert, da sie im Kontext des Textes nicht geschlechtsspezifisch verstanden, sondern als abstrakte Begrifflichkeiten verwendet werden.
More-than Companions
Pauline Hafsia M’barek
What does it feel like to step on a snail? A barely perceptible resistance underfoot, the soft cracking of a fine shell pressing down on the slimy interior, then collapsing. Disgust or a bit of lust?
Mira Siering spent just under a year in Heiligenrode. The geographical seclusion and the preoccupation with her surroundings initially led to intensive explorations of the landscape, to extended bicycle tours and long walks. She collected plants, stones, branches and took photographic notes of natural assemblages: slugs with bits of plants stuck to their slimy backs, rotten wood that can hardly be distinguished from the crumbling brown underground, the collapsed body of a dead cat whose fur seems to blend in with the surrounding grass, oddly shaped roots and branches. But how do the peculiar tree sprouts and branches relate to our own bodies? Some of these branches she took to the studio and moulded in plaster on one side. When the branches were removed, the plaster moulds broke. By melting thin wax rods inside the plaster pieces placed against each other, the broken parts were glued together by the wax flowing into the cracks, holding the form as a whole.
The work Ohne Titel (Beine) 1 hows long, white forms with various curvatures, reminiscent of bones or even vestigial chromosomes. They gently touch the floor and stand gracefully, but can only hold themselves upright with the help of a wire rope hanging from the ceiling which winds through metal clamps attached to the forms and connects them like a spatial drawing. The clamps attached to the upper edge act like shackles, lifting the fragile objects up but simoultaneously binding them tightly to themselves. The sculptures stand in different formations, facing each other and communicating. One thinks of walking aids, prostheses and of first, clumsy attempts to walk. While the white outside of the sculptures shows the gestural plaster coating, the concave inside reveals imprints of branches and even small branch remnants next to the shimmering wax rod. The relation seems to be reversed here; the inside, the marrow of the wood, which is normally white, is on the outside, while on the inside the uneven, ribbed structure and the brown colour of the bark have left their mark.
Mira Siering‘s form-finding processes are complex in nature. Her works are created in a slow process of material research, exploring their properties, aggregate states and materialspecific limits. Nonetheless she does not transfer this experiential knowledge into a technical mastery of the respective moulding techniques, but rather documents the genesis of form and its potential failure by the form itself. The moulding process becomes visible in that she does not separate matrix and impression, negative and positive, from each other, but makes them visible in their inseparable connection and creates, so to speak, both-and sculptures. As, for example, when she spreads alginate over large areas of the wet cut surfaces of tree stumps, lets it dry and transports the resulting unstable, elastic form to the studio. The alginate negative is now reinforced with a layer of plaster on the back in order to subsequently produce a true-to-scale plaster cast of the tree stump with the negative mold. However, the casting material is not removed afterwards to allow an unobstructed view of the positive, but remains in the imprint, contracts, shrinks. The imprint only becomes visible in the places where the alginate has detached from the plaster like a skin. Holes are now drilled into the wing-like sculptures of the group Irgendwann wird alles Boden 2, each of which connects two plasterboards, or imprints of tree stumps, with aluminium tubes making them stable.
The zigzag alignment of several plasterboards is reminiscent of a dishevelled screen. In this way, coarsly furrowed, unfolding forms are created, which, due to the metal connection, remind one of pierced and thus wounded bodies. Since the plaster-reinforced alginate was not removed, it acts like a band-aid on the open wound of the cut showing traces of the tree stump’s surface. The work Previous (Wurzel / Irgendwann wird alles Boden) 3 also emerged from the observation and the transfer of natural decay processes to sculptural work. Processes that only become apparent in nature through the course of the year, when matter is decomposed by microorganisms, fungi and soil animals. A dead root stump from the forest was moulded in the studio with several clay slabs, the inside was filled with green-coloured alginate and then plastered again. As the alginate dried out, the surrounding plaster shell became unstable and full of cavities. This created apertures that reveal the shrunken, greenish replica of the tree stump. The large amorphous, broken form now lies on the floor. The indefinable interior visible through the fractures is reminiscent of a mollusc which, despite several attempts to break out, has not been able to do so and has dried up in its white lime shell.
The cryptic exhibition title Du sagst, es ist anders 4 addresses the viewer directly. The act of definition is shifted to the outside, any interpretation is negated by referring to deviation, insisting on difference. It is different, I is another. The living is always contradictory, metamorphic, proliferating, porous and more than.
Accordingly, Siering‘s working method is characterised by a general openness and experimental curiosity about what reveals itself to her through and in the material. The process of creating form is thereby diffcult to decipher, remains enigmatic and ambiguous, as the relationships between inside and outside, form and matter, are constantly reversed. The objects created by this challenging and process-oriented way of working initially appear brittle, raw and provisional. They seem unformed, strained; they weaken. They do not stand upright, but must be supported in their fragile presence by ropes or metal brackets.
They show fractures, seams and cracks bearing witness to the limits and resistances of their original material. At the same time, however, they are full of vibrating sensitivity, lability and playfulness. They dance, wanting to seduce. One could call these vulnerable forms, which Mira Siering also calls companions, constructed feelings. An ambiguous, sensual structural tension is created between the individual works, affecting the viewers by placing them in a dynamic entanglement with the objects or subjects. In this way Siering‘s objects bear the manifold traces of the becoming and passing of forms that make the complex metabolic processes of the more-than-human co-world tangible. Yet they do not end with the exposure of the works in the exhibition space, but continue imperceptibly: plaster, wax, alginate react to changes in temperature and humidity and continue to transform. At some point, the plaster will become damp and delicate, the alginate will dry out, the wax will become brittle or melt away due to the heat of the sun.
At some point a snail, a cat, a human being, a branch, a tree stump will become rotten, mouldy, putrid, ashy. Rotting, mouldering, decaying. Becoming compost. At some point everything turns back to soil.
1 Untitled (Legs)
2 Everything turns back to soil
3 Previous (Root / Everything turns back to soil)
4 You say it‘s different