Brauch ich nicht mehr
von Veronika Mehlhart
Als hätte sich der Waldboden eigenmächtig emporgehoben, balanciert Mira Sierings Arbeit Brauch ich nicht mehr im Ausstellungsraum. Zwei ambigue, ungleiche Formen werden von Metallstiften in einem Metallrohr gehalten, werden aufgespannt. Die Arbeiten von Mira Siering leben von der Offenheit ihrer Assoziationen, wabern zwischen dem Menschlichen, Bezügen zur Natur und der Auseinandersetzung mit Material. Letzteres ist für sie als skulptural arbeitende Künstlerin von zentraler Bedeutung. In immer neuen Formen wendet sie sich mal Glas und Keramik, mal pflanzlichem Alginat oder nun, neuer, einem Gemisch aus Sägemehl und Leim zu.
Die Formen in Brauch ich nicht mehr erinnern bisweilen an landschaftliche Erhebungen - auch verstärkt durch Farbigkeit und Struktur des Holzgemischs- oder an die Rundungen und die aufrechte Haltung von Körpern; eine Uneindeutigkeit, wie sie auch der Bergrücken im Namen trägt. Und auch auf einer zeitlichen Ebene haftet den Arbeiten eine Ambiguität an. Das Alte und das Neue sind in Sierings künstlerischen Arbeiten insgesamt nie ganz klar zu trennen. Eher sucht sie in der Gegenwart nach einer Möglichkeit, schon Bestehendes fortwährend neu zu bearbeiten und die verschiedenen Zustände für sich selbst, wie auch für Betrachter*innen, als Ebene in ihren Arbeiten ins Blickfeld zu rücken. So findet hier eine vorab entstandene Abformung aus eben diesem Holzgemisch Verwendung, indem sie wiederum von der neuen Abformung eingefasst und vereinnahmt wird: Sie wird Teil von etwas Neuem und bleibt doch in einer gewissen Widerspenstigkeit, einem Riss eigenständig erkennbar.
Das liegt auch daran, dass der Abformungsprozess in Sierings Arbeiten sichtbar bleibt und ihren Objekten eine erkennbare Zweiseitigkeit innewohnt. Wo die eine Seite einheitlich strukturiert ist, trägt die mögliche Innenseite Spuren einer Matrize in sich, die darauf hinweisen worauf die Abformung einst lag. Wie die abgelegte Haut einer Schlange, in der sich noch die Spuren des Körpers abzeichnen, wird hier die Silhouette eines Körpers, das Abwesende, erfahrbar. Im Ausstellungsraum bilden sich für uns die Hinterlassenschaften von etwas, das seinen schützenden Panzer verlassen hat und ihn nun nicht mehr braucht.
In diesem vielseitigen Deutungsbogen, den Siering aufspannt und offenlässt, findet sich letztendlich auch die Frage nach Verhältnissen und Beziehungen. Dabei geht es ebenso um ihr eigenes Verhältnis zum Material im künstlerischen Umgang, wie um die Verhältnisse zwischen verschiedenen Materialien. Auf vielen Ebenen finden hier Prozesse statt, in denen Menschen und Dinge miteinander in Relation treten. Die unterschiedlichen Elemente benötigen einander, geben sich gegenseitig Halt und Stabilität: Wo das Metall die Arbeit aufrecht stehen lässt, berührt eine der Holzformen den Boden, lässt sie standhaft werden. Was hier zwischen dem Material verhandelt wird, macht eine Gleichzeitigkeit von Fürsorge und Abhängigkeit sichtbar, die wir nicht zuletzt auch in zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechten immer wieder feststellen können.
English version below
Brauch ich nicht mehr
von Veronika Mehlhart
Als hätte sich der Waldboden eigenmächtig emporgehoben, balanciert Mira Sierings Arbeit Brauch ich nicht mehr im Ausstellungsraum. Zwei ambigue, ungleiche Formen werden von Metallstiften in einem Metallrohr gehalten, werden aufgespannt. Die Arbeiten von Mira Siering leben von der Offenheit ihrer Assoziationen, wabern zwischen dem Menschlichen, Bezügen zur Natur und der Auseinandersetzung mit Material. Letzteres ist für sie als skulptural arbeitende Künstlerin von zentraler Bedeutung. In immer neuen Formen wendet sie sich mal Glas und Keramik, mal pflanzlichem Alginat oder nun, neuer, einem Gemisch aus Sägemehl und Leim zu.
Die Formen in Brauch ich nicht mehr erinnern bisweilen an landschaftliche Erhebungen - auch verstärkt durch Farbigkeit und Struktur des Holzgemischs- oder an die Rundungen und die aufrechte Haltung von Körpern; eine Uneindeutigkeit, wie sie auch der Bergrücken im Namen trägt. Und auch auf einer zeitlichen Ebene haftet den Arbeiten eine Ambiguität an. Das Alte und das Neue sind in Sierings künstlerischen Arbeiten insgesamt nie ganz klar zu trennen. Eher sucht sie in der Gegenwart nach einer Möglichkeit, schon Bestehendes fortwährend neu zu bearbeiten und die verschiedenen Zustände für sich selbst, wie auch für Betrachter*innen, als Ebene in ihren Arbeiten ins Blickfeld zu rücken. So findet hier eine vorab entstandene Abformung aus eben diesem Holzgemisch Verwendung, indem sie wiederum von der neuen Abformung eingefasst und vereinnahmt wird: Sie wird Teil von etwas Neuem und bleibt doch in einer gewissen Widerspenstigkeit, einem Riss eigenständig erkennbar.
Das liegt auch daran, dass der Abformungsprozess in Sierings Arbeiten sichtbar bleibt und ihren Objekten eine erkennbare Zweiseitigkeit innewohnt. Wo die eine Seite einheitlich strukturiert ist, trägt die mögliche Innenseite Spuren einer Matrize in sich, die darauf hinweisen worauf die Abformung einst lag. Wie die abgelegte Haut einer Schlange, in der sich noch die Spuren des Körpers abzeichnen, wird hier die Silhouette eines Körpers, das Abwesende, erfahrbar. Im Ausstellungsraum bilden sich für uns die Hinterlassenschaften von etwas, das seinen schützenden Panzer verlassen hat und ihn nun nicht mehr braucht.
In diesem vielseitigen Deutungsbogen, den Siering aufspannt und offenlässt, findet sich letztendlich auch die Frage nach Verhältnissen und Beziehungen. Dabei geht es ebenso um ihr eigenes Verhältnis zum Material im künstlerischen Umgang, wie um die Verhältnisse zwischen verschiedenen Materialien. Auf vielen Ebenen finden hier Prozesse statt, in denen Menschen und Dinge miteinander in Relation treten. Die unterschiedlichen Elemente benötigen einander, geben sich gegenseitig Halt und Stabilität: Wo das Metall die Arbeit aufrecht stehen lässt, berührt eine der Holzformen den Boden, lässt sie standhaft werden. Was hier zwischen dem Material verhandelt wird, macht eine Gleichzeitigkeit von Fürsorge und Abhängigkeit sichtbar, die wir nicht zuletzt auch in zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechten immer wieder feststellen können.
More-than Companions
Pauline Hafsia M’barek
What does it feel like to step on a snail? A barely perceptible resistance underfoot, the soft cracking of a fine shell pressing down on the slimy interior, then collapsing. Disgust or a bit of lust?
Mira Siering spent just under a year in Heiligenrode. The geographical seclusion and the preoccupation with her surroundings initially led to intensive explorations of the landscape, to extended bicycle tours and long walks. She collected plants, stones, branches and took photographic notes of natural assemblages: slugs with bits of plants stuck to their slimy backs, rotten wood that can hardly be distinguished from the crumbling brown underground, the collapsed body of a dead cat whose fur seems to blend in with the surrounding grass, oddly shaped roots and branches. But how do the peculiar tree sprouts and branches relate to our own bodies? Some of these branches she took to the studio and moulded in plaster on one side. When the branches were removed, the plaster moulds broke. By melting thin wax rods inside the plaster pieces placed against each other, the broken parts were glued together by the wax flowing into the cracks, holding the form as a whole.
The work Ohne Titel (Beine) 1 hows long, white forms with various curvatures, reminiscent of bones or even vestigial chromosomes. They gently touch the floor and stand gracefully, but can only hold themselves upright with the help of a wire rope hanging from the ceiling which winds through metal clamps attached to the forms and connects them like a spatial drawing. The clamps attached to the upper edge act like shackles, lifting the fragile objects up but simoultaneously binding them tightly to themselves. The sculptures stand in different formations, facing each other and communicating. One thinks of walking aids, prostheses and of first, clumsy attempts to walk. While the white outside of the sculptures shows the gestural plaster coating, the concave inside reveals imprints of branches and even small branch remnants next to the shimmering wax rod. The relation seems to be reversed here; the inside, the marrow of the wood, which is normally white, is on the outside, while on the inside the uneven, ribbed structure and the brown colour of the bark have left their mark.
Mira Siering‘s form-finding processes are complex in nature. Her works are created in a slow process of material research, exploring their properties, aggregate states and materialspecific limits. Nonetheless she does not transfer this experiential knowledge into a technical mastery of the respective moulding techniques, but rather documents the genesis of form and its potential failure by the form itself. The moulding process becomes visible in that she does not separate matrix and impression, negative and positive, from each other, but makes them visible in their inseparable connection and creates, so to speak, both-and sculptures. As, for example, when she spreads alginate over large areas of the wet cut surfaces of tree stumps, lets it dry and transports the resulting unstable, elastic form to the studio. The alginate negative is now reinforced with a layer of plaster on the back in order to subsequently produce a true-to-scale plaster cast of the tree stump with the negative mold. However, the casting material is not removed afterwards to allow an unobstructed view of the positive, but remains in the imprint, contracts, shrinks. The imprint only becomes visible in the places where the alginate has detached from the plaster like a skin. Holes are now drilled into the wing-like sculptures of the group Irgendwann wird alles Boden 2, each of which connects two plasterboards, or imprints of tree stumps, with aluminium tubes making them stable.
The zigzag alignment of several plasterboards is reminiscent of a dishevelled screen. In this way, coarsly furrowed, unfolding forms are created, which, due to the metal connection, remind one of pierced and thus wounded bodies. Since the plaster-reinforced alginate was not removed, it acts like a band-aid on the open wound of the cut showing traces of the tree stump’s surface. The work Previous (Wurzel / Irgendwann wird alles Boden) 3 also emerged from the observation and the transfer of natural decay processes to sculptural work. Processes that only become apparent in nature through the course of the year, when matter is decomposed by microorganisms, fungi and soil animals. A dead root stump from the forest was moulded in the studio with several clay slabs, the inside was filled with green-coloured alginate and then plastered again. As the alginate dried out, the surrounding plaster shell became unstable and full of cavities. This created apertures that reveal the shrunken, greenish replica of the tree stump. The large amorphous, broken form now lies on the floor. The indefinable interior visible through the fractures is reminiscent of a mollusc which, despite several attempts to break out, has not been able to do so and has dried up in its white lime shell.
The cryptic exhibition title Du sagst, es ist anders 4 addresses the viewer directly. The act of definition is shifted to the outside, any interpretation is negated by referring to deviation, insisting on difference. It is different, I is another. The living is always contradictory, metamorphic, proliferating, porous and more than.
Accordingly, Siering‘s working method is characterised by a general openness and experimental curiosity about what reveals itself to her through and in the material. The process of creating form is thereby diffcult to decipher, remains enigmatic and ambiguous, as the relationships between inside and outside, form and matter, are constantly reversed. The objects created by this challenging and process-oriented way of working initially appear brittle, raw and provisional. They seem unformed, strained; they weaken. They do not stand upright, but must be supported in their fragile presence by ropes or metal brackets.
They show fractures, seams and cracks bearing witness to the limits and resistances of their original material. At the same time, however, they are full of vibrating sensitivity, lability and playfulness. They dance, wanting to seduce. One could call these vulnerable forms, which Mira Siering also calls companions, constructed feelings. An ambiguous, sensual structural tension is created between the individual works, affecting the viewers by placing them in a dynamic entanglement with the objects or subjects. In this way Siering‘s objects bear the manifold traces of the becoming and passing of forms that make the complex metabolic processes of the more-than-human co-world tangible. Yet they do not end with the exposure of the works in the exhibition space, but continue imperceptibly: plaster, wax, alginate react to changes in temperature and humidity and continue to transform. At some point, the plaster will become damp and delicate, the alginate will dry out, the wax will become brittle or melt away due to the heat of the sun.
At some point a snail, a cat, a human being, a branch, a tree stump will become rotten, mouldy, putrid, ashy. Rotting, mouldering, decaying. Becoming compost. At some point everything turns back to soil.
1 Untitled (Legs)
2 Everything turns back to soil
3 Previous (Root / Everything turns back to soil)
4 You say it‘s different